Cetus

Cetus

Hier, wo sich die Welt zu den Sternen aufbäumte, hier wurde er zur Projektion des Nichts.

 

Entlang der endlosen Tertiär-Stufe, mit dieser Krümmung, als befände er sich am äußeren Rand des Planeten, was ja auch irgendwie zutraf, kaprizierten die Fluoreszenzen, ein himmel-flackerndes Lichttheater, das schlichte Gemüter hätte um den Verstand bringen können! Sehen und sterben! Ja, ja, ja, sehen und sterben! Chris konnte die Augen nicht davon lassen. Er versank in andächtiger Betrachtung. Aber je länger er sich dem hingab, um so mehr schien ihm, zwei Augen wären einfach nicht genug, für dieses existenziell berührende „Sehen und Sterben“! Er spürte wieder diesen brennenden Schmerz in seiner Kehle! Er war allein, mutterseelenallein! Was war schon ein Mensch alleine, ohne einen anderen, mit dem er all dieses „Sehen und Sterben“ teilen konnte? Und je länger ihm dieses prächtige Lichttheater vor den Augen flackerte, umso mehr schien es ihm, wie ein Beleg für seine Einsamkeit, ja für seine Nichtexistenz, als wäre er ein Wanderer in einer Schattenwelt, ohne Wahrnehmung, ohne Reflexion und Begegnung, obwohl doch der Himmel brannte! Er griff in der Seitentasche. Dort war der Slip. Er lies den Stoff zwischen Daumen und den Fingern wandern, etwas tröstliches ging davon aus, etwas das Nähe zu einem Menschen versprach! „Lilley, Lilley!“ Er fühlte Wärme, sackte zurück in den Sitz, dann machte Morpheus kurzen Prozess, er fiel in tiefen Schlaf, in einen todesähnlichen Schlaf, aus dem nur Unsterbliche erwachen würden!

Als Chris erwachte stand die Sonne am schwarzen Himmel! „Schon Mittag, verdammt?“ Er rappelte sich hoch. Nein, es war Morgen, die Sonne stand halbhoch im Osten. Er war aus dem Schatten der tertiären Stufe heraus, er war über dem Berg! Die terrassenförmige, endlose Abbruchlinie verriet, hier war das Gipfelplateau! Und es glich wahrhaftig einem Kontinent, der über dem Dunst der Atmosphäre schwebte, ja, ja, mit all den Sternen darüber, eine Insel im All, es war von außer-weltlicher, majestätischer Dimension! Die Landmassen im Westen lagen noch im Schatten des Berges, dort war noch stockfinstere Nacht! Weit draußen markierte ein rötlich leuchtender Saum die Hell-Dunkel-Grenze. Olympus- Mons war ein gigantischer Berg! Er musste weiter Richtung Südost, zum Gipfel mit der Caldera, ca. 20 Meilen, nur noch wenig ansteigend. Hier standen 25 845 Meter auf dem Altimeter! „25 845 Hohen-Meter, woow!“, dachte er, „wie diskrepant Präzision sein kann!“ Der Pointer zeigte nach Norden, durch ein Becken, zwischen erstarrten Magma- Strömen hindurch, ein wahres Labyrinth. Er fühlte sich leer, erschöpft, wie ausgefressen. Auch die Dosis „Eier und Speck“ aus der Kanüle konnte ihn nicht wirklich aufmöbeln, es war ja im Grunde nichts weiter als widerliche, antibiotische Chemie. Kraftlos blickte er nochmal hinaus, auf den unglaublichen Schattenwurf des Berges, zur rötlichen Hell- Dunkel- Grenze, mit dem Linsen-Dunst der Atmosphäre darüber, blickte entlang der endlosen Abbruchlinie, tatsächlich ein Welten-Ufer im blauschwarzen, funkelnden All! Hier oben war man Herr über Tag und Nacht, Herr über den Lauf der Gestirne, es war ein Göttersitz! Der Eindruck war ganz entgegen seinem Befinden. Er fühlte sich leer, dieser Ort jedoch war voller Energie, glaubte er. Er hörte die andere Stimme sagen: 'Ist noch 'ne lange Reise, Pilger, Ssssrrr!“ Er fragte: „Götter lieben Helden, oder?“ „Lieben und vernichten sie, je nach Lust und Laune!“ „So, je nach Lust und Laune?“ „Ja, tun sie, über aufgeblasene Unsterbliche würden sie sich totlachen!“ „E=MC², ist das eine göttliche Formel?“ „Was soll das?“ „Die konzentrierte, gigantische Masse dieses Berges ist doch nichts weiter als eine unvorstellbare Menge transformierter Energie?“ „Und weiter?“ „Fluktuationen sind elementar! Warum haben Berge diese gewisse Anziehungskraft? Warum leben die Götter auf einem Berg?“ „Na, warum?“ „Weil die Berge mit ihrer konzentrierten Masse Energielieferanten sind, die Unsterblichkeit der Götter ist womöglich nur eine Metapher dafür, lass uns hierbleiben und noch etwas E=MC² reinziehen!“ „Ok, ok, jedem seine Esoterik, aber, nur zur Erinnerung, du meintest gerade noch, es gäbe keinen Unterschied zwischen einem Mückenschiss und diesem Berg! Und an einem Mückenschiss Energie saugen zu wollen halte ich nun doch für eine ziemlich merkwürdige Sache!“ „Mückenschiss mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat, das gibt so viel Mückenschiss das kannst du dir gar nicht vorstellen, garantiert, außerdem war es eine, wie soll ich sagen, eine rein prä-existenzielle Betrachtung!“ „Woow, woow, 'bist schon ein verdammter Hirnakrobat!“ „Ich?“ „Ja du!“ „Und wer bist du?“ „Die Security! Ich schau nur zu dass die Dinge am Laufen bleiben! Hier gibt‘ s nichts fur umsonst, jede Sekunde die wir hier verplempern kostet Energie, kapiert, Ssssrrr!“ Chris sah nochmal in die Runde, dieser Anblick war jedenfalls von elementarer Wucht, hier schienen Masse und Energie, Raum und Zeit, wie in eine unsterbliche Formel gegossen. Er streckte sich aus, kleine Frühmorgen- Gymnastik… aus der Beintasche spitzte der Slip! Ok, er musste den Hintern hoch kriegen und rüber zur Big-Eye- Station, zu Lilley, es gab keine Zeit zu verlieren, schnell, so schnell er konnte. Und für einen irritierende Moment schien ihm, die Energie, die von diesem kleinen, hautfarbenen Zipfel ausging, wäre nochmal von ganz anderer Dimension, als die ganze unfassbare Energie dieses irrsinnigen Berges….

 

Peter Tempel

67098 Bad Dürkheim


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