Heartbeat

Heartbeat

Mit seiner scharfen Schneide verkörperte der Gipfel des "Cerro" das Alles oder Nichts, dem man hier unterworfen war

 

Gutes Wetter heißt in Patagonien, auf und los und zwar sofort! Sie hetzten die steilen Moräne hinauf zum Gletschersee, im türkisfarbenen Eiswasser spiegelten sich drei Gipfel. Das Grün der Hochfläche, auf halber Höhe, strahlte wie ein Gewebe aus Smaragd, Seen-Augen blitzten in der Sonne, die ockerfarbige Pampa schummerte weit ins Gegenlicht des Horizonts, wie gegossen lag das Azur des „Lago” daneben! Jedem hatte es ein „Ah” oder „Oh” entlockt,sie hatten keinen Blick dafür. Schon oben auf dem Gletscher verschwanden die Flanken des „Electrico“ im grauen Nebel. Bodo sagte noch, "ey, meine Ohren, komplett zu, was 'n los" und schon brach ein Brüllen, ein Donnern los, ein Beschuss wie mit Glassplitter, es waren Schneekristalle, der nächste Orkan, jede Kontur verwischte! Sie suchten kauernd am Boden Schutz, es ging nur noch kriechend voran. Schließlich erreichten sie den „Paso”, ihr Tagesziel. „Botsch” war gerade im Begriff seinen Rucksack abzunehmen da streckte ihn eine Orkan-Böe zu Boden. Die Böe entriss ihm den Packen, jagte ihn vor sich her, als wäre er eine Pappschachtel. Er verschwand im Nebel wie ein Spuk der sich im Nichts auflöst. Roce konnte sich unter einem Felsvorsprung in Sicherheit bringen. Später fanden sie den Rucksack wieder. Er stak weiter hinten im Halbrund des „Paso” in einer Schneewehe. Roce meinte: „Mann, „Botsch”, ohne deinen Sack wäre die Tour so gut wie gelaufen!“ „Ja,ja, verdammt“, schnaubte „Botsch” als würde ihm etwas im Hals stecken, „'konnte den blöden Sack einfach nicht mehr festhalten." Jeder verfügt nur über beschränkte Kräfte. Eine derartige Einsicht war bei „Botsch“ unter 100 Kilogramm Lebendgewicht begraben! Etwas nicht festhalten zu können stand bei ihm absolut außer Frage! Er würde in jeder Lebenslage alles festhalten können, so selbstverständlich wie er Pfeffersalami als Grundlage fur eine gesunde Ernährung hielt. Nun schien diese Selbstverständlichkeit zu Bruch gegangen. Jedenfalls rumorte es kräftig in ihm, er knurrte: „Kommt nicht mehr vor, verdammte Seuche, garantiert!“

Der "Paso" war das Basis-Lager all jener Glücksritter die dem Roulette-Spiel an diesen Bergen verfallen waren. Zelten war hier oben eine riskante Sache, sicherer war es in einer Schneehöhle zu übernachten. In einer Schneehöhle zu übernachten bedeutet, sich mit der klägliche Erfahrung anzufreunden lebendig begraben zu sein, außerdem, irgendwann beginnt es von der Decke zu tropfen… ständig! Dennoch, das Schutzbedürfnis kann größer sein als all dieses Ungemach. Bodo sah es von einer anderen Seite. Es sah die Gelegenheit all seine Fleisch- und Wurstvorrate, die schier ohne Ende aus seinem Rucksack zum Vorschein kamen, adäquat einzulagern. „Die reinste Tiefkuhltruhe, he, he“, freute er sich…

Gegen Abend beruhigte sich der Wind, er drehte nach Süden und es wurde merklich kälter. Roce sah auf den Höhenmesser, er lag wieder etwas unterhalb der Höhe des „Paso“, was nichts anderes hieß, der Luftdruck stieg. Roce sagte zu „Botsch“: „Er steigt langsam, wichtig ist das er langsam steigt. Kaum hier und eine Schönwetter-Periode, da meint es jemand verdammt gut mit uns!“ „Du glaubst wir können morgen früh los?“ „Wenn das so weiter geht, wie gesagt, wichtig ist das der Luftdruck langsam steigt.” Roce tippte nochmal mit dem Finger auf den Höhenmesser, der Zeiger zitterte und fiel kaum merklich unter die Strichmarkierung dann sagte er nachdenklich: „Gestern schon das schöne Wetter, Mann, „Botsch“, so’ n Wetter wie gestern, dann müssen wir los!“ Kurz nach Mitternacht ging Roce nach draußen. Es war eine kalte, Sternen übersäte Nacht. All die Sternbilder der südlichen Hemisphäre waren zu sehen. Unübersehbar die beiden magellansche Wolken, die kleineren Begleiter unserer Milchstraße. Jupiter funkelte wie ein Kristall. Orion! Orion? Moment! War es tatsächlich Orion? Etwas stimmte nicht, egal, Schluss mit Sternegucken, Hauptsache das Wetter war gut. Eine Stunde später brachen sie auf. Roce und Bodo wollten eine Route klettern, die ein Todesverächter aus dem alten Europa als erster im Alleingang bezwang. Er benötigte dazu die Kleinigkeit von 8 Tagen! Alle Aspiranten, vorausgesetzt sie erreichen den Gipfel, würden natürlich ein klein wenig von diesem Epos profitieren! Im Führer stand: Rassige Kletterei auf rauem Granit!

Im Morgengrauen erreichten sie die Eis-Rinne, der Beginn der Kletterei. Es war kombiniertes Gelände, Fels und Eis, nicht so schwer, bestenfalls ein Warm-Up gegenüber dem was noch kommen würde. Darüber präsentierte sich der Pfeiler, eine nahezu senkrechte Plattenwand aus kompaktem Granit. Ein Riss, wie von der Fräse, wies den Weg. „Botsch“ begann, mit der Führung als Seil-Erster. Er hatte Hände wie Schraubstöcke, Riss-Klettern war sein Metier. Einmal, ein paar Meter über Roce, der am Standplatz sicherte, hatte er eine Hand in den Spalt gerammt, sah seelenruhig an einem Arm hängend herunter und gab zum Besten: „Die hält, konnte biwakieren daran, he, he!“ Roce übernahm die Passagen über die Wand- und Plattenstellen, da kam er als Seil-Erster am schnellsten voran. Tempo war die halbe Miete, obwohl es im Moment gut aussah und eine Nordwand ist hier eine Südwand, das Wetter blieb die große Unbekannte. Am Abend des nächsten Tages schien der Pfeilerkopf schon in Reichweite. Nur noch dort hinauf, hinunter in die Scharte seilen, nochmal biwakieren, am nächsten Morgen die Gipfelwand, 3-4 Seillängen ist nicht mehr die Welt! Nur noch einen Tag mit gutem Wetter, nur noch einen Tag! Zuerst war es eine Reihe linsenförmiger Wolken am Himmel. Bodo ackerte in einem mächtigen, mehrgliedrigen Spalt, es war Schwerstarbeit. „Botsch“ schnaubte wie ein Wallach, es ging langsam voran. Roce ließ die Augen nicht von den Wolken. Die Wolken stapelten sich allmählich Schicht für Schicht übereinander und nahmen die Form von pittoresken Töpfen an. Als sie auf dem Pfeilerkopf ankamen, hatten die Wolken nochmal zugelegt, sie schienen bedrohlich groß. „Hey Roce, was sind das für Nachttöpfe da oben“, fragte „Botsch“. „Die Wolken?“ „Ja, die Riesen-Dinger!“ „Das ist Föhn, Föhn-Wolken, da oben bläst’ s wie verrückt und guck' da drüben!“ Im Westen, an der vereisten Gipfelreihe über dem Inlandeis stürzte eine kilometerbreite Kaskade grauer Wolken herunter. Roce sagte, er konnte seine Aufgeregtheit kaum verbergen: „Botch, verdammt, wir müssen hier runter, schnell... so schnell wie möglich, gleich ist hier die Hölle los!“ Sie richteten die Abseilstelle ein. „Botsch“ werkelte mit aller Seelenruhe. Roce drängte zum Beeilen, „Botsch“ grummelte: „Ja, ja, was soll‘ n los sein? 'rührt sich doch nichts“. Der Himmel färbte sich violett, es wurde merklich kälter und trübe, die Luft schien zu vibrieren! „Du zuerst“, sagte „Botsch“. Roce hing sich in die Strippen und begann die Abseil-Fahrt. Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, jaulte düsteres Gewölk heran, der Himmel feuerte aus allen Rohren! Nur runter! Roce schwang sich ins Freie, ließ das Seil ein paar Meter durchrutschen, nur runter, doch… was für eine Dummheit… das brüllende Inferno erfasste ihn, fegte ihn einfach weg! Ein harter Fangstoß! Sein Körper schleuderte hin und her, der Gurt schnürte tief ein, nahm ihm die Luft, jede Sekunde konnte alles vorbei sein, die Haken würden brechen, das Seil zerreißen, aus und vorbei! Deutlich stand ihm vor Augen, er zappelte am Seil, vollkommen hilflos, tausend Meter über dem Gletscher inmitten tobender Luftmassen! Er konnte nichts tun, einfach nichts tun… aus und vorbei, so schnell geht sterben! Er fühlte Schwäche, gleich würden seine Sinne schwinden! Er dachte noch: „Wer sich in Gefahr begibt kommt darin um! Nicht wahr? Nicht wahr? Idiot!“ Dann plötzlich, er schlug an, er schlug heftig an… Felsen! Zur Seite waren Felsen zu sehen, er schlug wieder an, baumelte wieder zurück in das brüllende Dunkel, dann wieder, die Felsen, irgendwie konnte er sich festhalten, im selben Moment spürte er Zug am Seil, kräftigen Zug, Himmelherrgott! Es war „B o t s c h“! „B o t s c h“! Er zog ihn am Seil heran! Der Zug war stark, der Zug war gewaltig, er kletterte, ruderte nach oben. Dann hörte er ihn brüllen: „Gib mir die Hand, Mann! L… O… O… S, komm her!“ Er spürte Bodos Hand an seinem Arm, mit Herkules- Kraft packte sie zu und zog ihn herauf. Er kam auf die Beine, am Standplatz, „Botsch“ hielt ihn fest, er klinkte sich in die Haken, ganz kurz! Gerettet! Er hatte Tränen in den Augen, nicht nur weil er noch einmal davongekommen war, der Orkan fegte sie weg! Doch es war noch nicht zu Ende. Die Orkan-Wellen überrollten sie immer wieder. Es war dieser gnadenlose Rhythmus, jeden Moment hätten Haken, Karabiner, Seile brechen konnen, jeden Moment hätte alles vorbei sein konnen! Sie starben tausend Tode!

Gegen Morgen wurde es ruhiger, Roce überkam todesähnlichen Schlaf. Als er die Augen wieder öffnete schien die Umgebung wie in Watte gepackt. Fuß hoher Schnee bedeckte Jacke und Hose. Er fühlte sich starr und steif, halb erfroren! Es schneite friedlich vor sich hin. Er sah etwas vor sich, verschwommen zwischen Schneekristallen, es war eine Hand, sie reichte ihm etwas entgegen, dann hörte er eine Stimme, es war „Botsch’ s“ Stimme: „Salami?“ Es war von seltener Wirkung, fast wie eine weltliche Version von „Es-werde-Licht“! „Ja danke Botsch, danke Botsch!“ Aber es half alles nichts, sie mussten runter und es war klar, es wurde Stunden dauern, es würde fürchterlich werden! Am Abend waren sie auf dem Gletscher und am Ende ihrer Kraft. Der Orkan kam zurück. Sie krochen wie geprügelte Hunde dahin. Weiter unten, noch auf dem Gletscher, lagen sie mehr im Schnee als sie vorwärts kriechen konnten. Es wurde wieder Nacht. Wolken jagten am Himmel. Für kurze Augenblicke waren Sterne zu sehen. Roce wusste, der Orion, mit dem etwas nicht stimmte, würde linker Hand, also nördlich, stehen müssen, dann hatten sie ungefähr die Richtung zurück zum „Paso”. Am Boden gekauert sah er nochmal zu dem Sternbild, was stimmte damit nicht? Auf einmal, klar! Es stand umgekehrt wie am nördlichen Sternenhimmel, relativ dazu stand man hier im Süden auf dem Kopf... der Gedankens schien ihm machtvoller als die barbarischen Naturkräfte, die nächste Orkanböe bügelte ihn zu Boden. Nach Stunden schließlich erreichten sie den „Paso“. Sie verrammelten die Öffnung der Schnee-Höhle mit den Rucksäcken. In den Schlafsäcken liegend schien ihnen die eisige Gruft wie ein Palast. Das Toben draußen konnte ihnen nichts mehr anhaben, nur die Böen saugten immer wieder die Luft aus ihren Ohren. Nach einer Weile fragte Roce: „Hey Botsch, wie hast du es nur geschafft, mich an Land zu ziehen?“ Er antwortete Salami kauend: „'Hab ja gesagt kommt nicht mehr vor!“ „Was kommt nicht mehr?“ „Das ich was auslasse!“

 

Peter Tempel

67098 Bad Dürkheim


Impressum
Datenschutzerklärung